Tragen von
Säuglingen

Tragen und Getragen werden

Vor der Kindertagesstätte unterhalten sich zwei Mütter über ihre Kinder:
„Mein Kind ist ja sooooo intelligent, es konnte schon mit einem Jahr Laufen!“
Darauf die andere Mutter: „Mein Kind ist so schlau, es hat sich noch mit zwei tragen lassen“

Warum „scheiden sich eigentlich die Geister“, wenn es um das Tragen unserer kleinsten Schützlinge geht? Vor allem, wenn man das Getragen werden bis hin zu unseren nomadisch lebenden Vorfahren zurück verfolgen kann. Bei der beständigen Suche nach Nahrung oder auf der Flucht hatte der kleine Säugling seinerzeit keine Chance länger irgendwo abgelegt zu werden.

Hassenstein prägte 1975 den Begriff des Traglings. Diese Definiton unterschied den Säugling von anderen Säugerjungen (Schneider 1975), die man als Mutterfolger (Wale), Ablieger (Rehe) und Mutterhocker (Affen) bezeichnet.
Auf der anderen Seite erinnern wir uns an Statuen und Gemälde von Maria und dem Jesus-Kind. Selbst der Schutzpatron der Autofahrer, der Heilige Christophorus, trägt das Jesus-Kind üblicherweise.
Mit der Erfindung des Kinderwagens im Viktorianischen Zeitalter Ende des 19. Jahrhunderts wurden die Kinder zunehmend abgelegt, was aber zunächst nur bessergestellte Gesellschaftsschichten betraf (Kirkilionis). Schuckelnde Bewegungen der Wiege, um das Kind zu beruhigen, simulierten das Tragen nur.
Im Laufe der Zeit lernten wir die Vorteile des Tragens immer besser zu verstehen. Müller beschrieb 1928 positive Auswirkungen auf die Muskulatur und die Atmung.

Trotzdem geriet es teilweise in Vergessenheit oder wurde auch unter dem Aspekt des „Nicht-Verwöhnens, Abhärtens und einer frühzeitigen Disziplinierung“ vor allem durch die Nazi-Propaganda des Dritten Reiches gezielt in Misskredit gebracht.
Anisfeld beschrieb 1990 förderliche Effekte auf die Mutter-Kind-Beziehung, indem der Säugling durch das Anschmiegen die Stimme der Mutter sowie Herzschlag und Geruch erfahren kann. Andererseits ist die junge Mutter durch die Nähe in der Lage, zeitnah die Bedürfnisse des kleinen Traglings wahrzunehmen und darauf einzugehen. Vermutungen von Kritikern, dass einer frühen Verwöhnung Tür und Tor geöffnet seien, haben sich nicht bestätigt. Im Gegenteil bescheinigt man solchen Kindern eine frühere Tendenz zur Selbständigkeit.
Trotz seiner „lokomotorischen Hilflosigkeit“ (Eibl-Eibesfeldt) ist der Säugling schon früh seiner sozialen Umwelt zugewandt. Er ahmt die Bewegungsmuster der Mutter, die er bereits aus der Gebärmutter kennt, beim Tragen nach. Dies bedeutet für ihn ein sensomotorisches Lernen durch Stimulation der Gleichgewichtsorgane im Innenohr, Forderung und Förderung von Halte- und Stellsteuerung über die Muskulatur und einen Lernprozess über eine positive Bewertung dieser Muster durch das limbische System (Michaelis und Sacher). Die entsprechenden Programme werden hierdurch eingespielt und perfektioniert, ein Rhythmusgefühl bildet sich aus.
Anatomisch wird durch das Ligamentum iliofemorale die biologische Haltemechanik der Beine des Säuglings unterstützt. Es verhindert die Streckung des Hüftgelenks und fixiert die Oberschenkel in Spreiz-Beuge-Haltung. Die zentrierte Druckübertragung des Hüftkopfes erleichtert das Anschmiegen (Hassenstein und Eibl-Eibesfeldt).
Die Veränderung der Tragegewohnheiten mit vermehrtem Ablegen des Säuglings zeigen zumindest Zusammenhänge zu einem gehäuften Auftreten von Hüftdysplasien im Säuglingsalter.

Beim Tragen gibt es einige Dinge zu beachten. Wird der Säugling vor dem Körper getragen, empfiehlt es sich, den Augenkontakt zwischen Kind und Eltern zu ermöglichen. Das ist nicht nur gut für die Eltern-Kind-Beziehung, sondern bedeutet auch eine gewisse situative Rückversicherung für beide Seiten.
Durch das Festhalten gewinnt das Kind taktile Sicherheit. Die Vertikalisation unterdrückt die Moro-Reaktion als physiologisch angelegte Schreckreaktion und hilft dem Säugling bei der sensorischen Integration, d.h. der Entwicklung von Reflex-Motorik in intendierte Motorik (Sacher). Bleibt die Moro-Reaktion über den Zeitraum ihres physiologischen Auftretens hinaus Basis motorischer Bewegungsmuster, wie wir das gehäuft bei unseren KiSS-Kindern beobachten, finden sicher später vermehrt statomotorische Unsicherheiten, die sich dann im Verhalten auf Spielplätzen, Leitern, Rutschen, Wackelbrücken oder beim Hochwerfen zeigen. Das Tragen bietet sich auch und gerade bei KiSS-Kindern an.
Das Tragen mit dem Gesicht in Laufrichtung dagegen überflutet den Tragling zum einen mit einer Fülle sensorischer Informationen. Zum anderen führt die Aufhebung der physiologischen Wirbelsäulenkyphose wiederum zu einer vermehrten Strecktendenz der Beine, was wir in Bezug auf den negativen Einfluss auf die Hüftgelenkspfanne und auf die vermehrte Dehnungssituation des Gefäß-Nerven-Bündels der unteren Extremitäten ungern sehen möchten.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das Tragen eine Renaissance erfährt. Hilfsmittel wie Tragetücher und Tragegestelle oder ähnliches erfordern zwar etwas mehr Aufwand, unterstützen aus ergonomischen Gesichtspunkten aber die Eltern in ihrer guten Absicht. Gegner des Tragens formulieren gerne Bedenken in Bezug auf negative Auswirkungen auf die kindlichen oder elterlichen Wirbelsäulen. Diese sind aber bei richtiger Anwendung und körpernaher Verwendung der Trage-Hilfsmittel aus funktionell-orthopädischer Sicht nicht gerechtfertigt. Spezielle Internetseiten und –foren sowie ausgebildete TrageberaterInnen bieten weitere Möglichkeiten für Aufklärung und Information.

Dr. med. Marc Wuttke
Chirotherapie und Manualmedizin

Literatur

  1. Sacher R (2004)
    Handbuch KISS KIDDs.
    Verlag modernes Lernen Dortmund
  2. Sacher R, Wuttke M, Göhmann U (2007) 
    Wenn Babys auf Reisen gehen. Rückhaltesysteme für Säuglinge in Fahrzeugen.
    pädiatr prax 70: 343-350
  3. Sacher R, Wuttke M (2007) 
    Babyliegeschalen – wenn Babys auf Reisen gehen.
    Praxis ergotherapie 3: 129-132
  4. Sacher R (2008)
    Gefährdungen der kindlichen Wirbelsäule.
    DHZ 10:23-27
  5. Sacher R (2009) 
    Aspekte der Halte- und Stellsteuerung im Säuglingsalter.
    ManMed 47(5):297-303
  6. Sacher R, Michaelis R (2011).
    Moro- und Startle- Reflex. Dynamik und Funktion angeborener Fremdreflexe.
    päd prax; In Publikation